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„Ach Kind, wo kommst du denn bloß wieder so spät her?“ Anna sah ihre Tochter vorwurfsvoll an. „Du weißt doch ganz genau, dass der Alte es nicht leiden kann, mit dem Essen zu warten. Sei froh, dass er schon im Bett liegt.“
Ilse schaute die Mutter zerknirscht unter ihrem Pony hervor an. Wusste sie doch nur zu genau, dass ihr Vater seine Wut über ihre Verspätung einmal mehr an Anna ausgelassen hatte. Der müde Gesichtsausdruck und die eckigen Bewegungen der Mutter sprachen Bände.
In der Regel kehrte der Alte nach seiner anstrengenden Schicht unter Tage in seiner Stammkneipe ein. Oft konnte er kein Ende finden und obwohl er, wie er bei jeder Gelegenheit stolz betonte ‚einen Stiefel vertragen konnte‘, trank er dann mehr, als gut für ihn war.
Anna lag während dieser Zeit im Schlafzimmerfenster und beobachtete ängstlich die Straße. Sah sie ihren Mann schwankend näher kommen, lief sie zurück in die Küche und erledigte die letzten Handgriffe für das Abendessen. Der Alte bestand darauf, sofort nach seiner Ankunft mit Frau und Tochter zu essen.
Früher hatte Anna die abendliche Milchsuppe immer um 18 Uhr fertig gehabt. Da war der Alte pünktlich von der Schicht nach Hause gekommen. Höchstens einen Kurzen hatte er sich auf die Schnelle erlaubt. Doch fast unmerklich wurden aus dem einen Schnaps zwei, drei und mehr. Er blieb immer länger aus, kam sturzbetrunken nach Hause.
„Wenn der Alte noch saufen gehen muss, dann soll der doch die kalte Suppe fressen!“ Das hatte Anna, starrsinnig wie sie zuweilen war, ihrer Tochter und einzigen Vertrauten erklärt.
Doch ihr Mann hatte sie eines Besseren belehrt: Er als Familienoberhaupt und Ernährer, hatte ein Recht darauf, dass seine Frau ihm ein warmes Abendessen servierte und gegebenenfalls so lange wartete, bis er seinen Feierabendschnaps getrunken hatte. Auch die widerborstige Tochter hatte sich zu fügen.
Das erste Mal warnte er, dann wurde er tätlich. Er klatschte kurzerhand den Teller mit der kalten Suppe an die Wand, ließ den Suppentopf hinterherscheppern. Anschließend zog er sich den Riemen aus der Hose und brachte Frau und Tochter Anstand und Achtung vor dem Herrn des Hauses bei. Die Abreibung würde sich das blöde Luder hinter die Ohren schreiben. Mochte sie ruhig wimmern, er war richtig in Fahrt gekommen. Zerrte sie anschließend ins Ehebett, wo sie ihren Pflichten nachzukommen hatte.
Ilse lag währenddessen auf dem Ledersofa in der Küche, das nächtens zu ihrem Bett umfunktioniert wurde. Sie zog sich das Deckbett über die Ohren und kniff die Augen zusammen. Träumte sich weit weg. Stellte sich die Welt draußen vor. Sie ging, wann immer sie sich 10 Pfennig von der Mutter erbetteln konnte, ins Kino. Im ‚Glaskasten‘ wurden Filme von Shirley Temple gezeigt. „Die Kleine Prinzessin“ gefiel ihr am Besten. Oft schlich sich Ilse ins immer abgedunkelte Schlafzimmer, drapierte eine Decke um sich und versuchte Shirleys Tanzschritte nachzuahmen. Wenn Anna ihre Tochter dabei ertappte, so strahlte sie, nahm die Kleine einen Augenblick ganz fest in die Arme. In solchen Augenblicken war hinter den verhärmten Zügen die hübsche junge Frau zu sehen, die einmal voller Hoffnung ins Ruhrgebiet gekommen war, um einen viel älteren Mann zu heiraten. Ilse liebte diese Glücksmomente.
„Wenn ich erst mal groß bin, dann nehme ich dich mit auf eine Weltreise, Mutter“, sagte sie oft. Anna lachte dann. „Und was machen wir mit dem Alten? Meinst du, der hat sich bis dahin totgesoffen?“
Die Kleine schaute ihre Mutter ernst an. „Ja, sicher. Der ist bis dahin schon lange weg. Schließlich bist du so viel jünger als er.“
„Ach Ilsekind, was würde ich bloß ohne dich anfangen. Ich versprech‘s dir hoch und heilig: Wenn du erwachsen bist, dann machen wir beide eine ganz schöne Reise. Nur du und ich!“ Anna bekam ganz glänzende Augen. „Vielleicht können wir zusammen in die Heimat fahren. In mein schönes Pommern…“
Heute war Ilse wieder an ihrem Lieblingsplatz gewesen. Sie hatte vor längerer Zeit eine Zauberstelle am Bahndamm gefunden. Hierhin zog sie sich zurück so oft es ging. Sie saß im dichten Gebüsch, so nah an den Eisenbahnschienen, wie es ihr möglich war. Hier wartete sie auf das näherkommende Donnern. Ein wohliger Schauer erfasste sie, wenn endlich ein Zug an ihr vorbeifuhr und sie fuhr in Gedanken mit. Stellte sich vor, wie das wohl wäre. Eine Eisen-bahnfahrt in die Welt, denn das die Züge Reisende überall hin brachten, das war schließlich bekannt, stand ja im Völkischen Beobachter. Ob man wohl mit der Eisenbahn bis nach Amerika gelangen könnte? Ob sie dort wohl Shirley treffen könnte.
Sie träumte sich in eine schöne Welt, weg von all dem Grau, das ihr Leben ausmachte. Oft vergaß sie darüber die Zeit. Kam, wie heute, zu spät zum Abendbrot. Doch heute hatte sie Glück gehabt. Der Alte schlief schon seinen Rausch aus. Anna schmierte ihr schnell noch ein Butterbrot mit extra dick Butter und Zucker drauf. Strich ihr flüchtig über die wirren Löcken, bevor sie sich vorsichtig ins Schlafzimmer schlich, um ihren schnarchenden Ehemann nicht zu wecken.
Zögernd legte Ilse die Blumen ab, schaute sich nach einer Blumenvase um.
Als die Blumen hübsch drapiert, das Grab unkrautfrei war faltete sie nachdenklich die Hände, erinnerte sich an das kleine, fernwehkranke Mädchen. An das gegenseitige Versprechen, das nie gehalten worden war. Obwohl viel jünger als ihr Ehemann, war Anna ihm vorausgegangen. So hatte sich nie die Gelegenheit ergeben, denn der Alte verbot es seiner Frau kategorisch zu verreisen. Konnte weder Frau noch Tochter verstehen.
„Ich war in deinem schönen Pommern, Mutter. Hab’s mir angesehen, ist wirklich so, wie du ’s mir immer erzählt hast. Und ich habe dich neben mir gespürt, ganz deutlich. Siehst du, irgendwie haben wir unsere Reise doch noch zusammen gemacht…“
[ Editiert von Angie Pfeiffer am 26.11.10 10:01 ]
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