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„Ihr Kinderlein kommet“, vor sich hin summend faltete Maria den Papierbogen, band ihn in der Mitte zusammen und befestigte die Silberkugel. Ja, dieser Weihnachtsengel sah genau so schön aus, wie alle anderen und sie legte ihn auf den großen Haufen mit fertig gebastelten Tischdekorationen. Schließlich sollte in diesem Jahr alles perfekt sein.
Sie strahlte, denn sie freute sie sich heuer ganz besonders auf das Fest. Es würde keinem anderen gleichen, dafür hatte sie schon lange im Voraus gesorgt. Die Familie würde, auf ihr hartnäckiges Betreiben hin, vollständig versammelt sein. Sogar Onkel Eduard, der sein nicht unbeträchtliches Vermögen gewöhnlich an der Cote d’Azur verringerte, hatte seine Anwesenheit angekündigt. Auch Tante Elisabeth, eine eher menschenscheue, ständig mäkelnde alte Jungfrau, ließ sich durch die Zusicherung, die Mitternachtsmette zu besuchen locken. Maria seufzte tief. Nur ihre liebe Mutter, Gott habe sie selig, würde nicht anwesend sein. Wie be-dauerte sie es, dass die Gute bereits im letzten Jahr verstorben war und so nicht an dem ausgezeichneten Mahl teilnehmen konnte, das Maria zu kredenzen gedachte. Sie sollten speisen wie die Könige, denn dieses würde ihre letzte Mahlzeit hier auf Erden werden.
Das Arsen hatte Maria kurz nach dem Tod ihrer Mutter gefunden, als sie den Dachboden aufräumte. Wie das Gift in den wurmstichigen alten Küchenschrank gekommen war, konnte sie nicht sagen. Ihre Mutter hatte es nie erwähnt, der Vater konnte diesbezüglich keine Angaben mehr machen, er war vor langer Zeit an akutem Nierenversagen gestorben. Vielleicht war es irgendwann einmal zur Ungezieferbekämpfung angeschafft und dann vergessen worden. „Arsen“, der Name stand, bekrönt von einem Totenkopf, groß und gefährlich auf der harmlos aussehenden Blechbüchse. Maria stand lange gedankenverloren auf dem Dachboden und hielt die Dose mit dem weißen Pulver in der Hand. Schließlich befeuchtete sie einen Finger, tauchte ihn vorsichtig ein und kostete. Es schmeckte etwas metallisch aber eigentlich nach gar nichts. Langsam stieg ein Gedanke in ihr hoch.
Doch bevor Maria ihren großen Plan in die Tat umsetzen konnte, galt es zu testen, ob das Gift nicht durch die lange Lagerung wirkungslos geworden war. Als Proband drängte sich der lästige Nachbarskater geradezu auf. Er streunte in allen Gärten herum und hatte Maria mehr als einmal mit seiner Anwesenheit belästigt. So fand „Peterchen“ bei seinem nächsten Abstecher in den Nachbargarten einen gut gefüllten Napf vor und ließ sich den Inhalt munden. Das die Menschenfrau, welche ihn sonst mit giftigen Blicken verfolgte und, wenn sie sich unbeobachtet wähnte, mit Steinen nach ihm warf, ihn wohlwollend bei der Nahrungsaufnahme beobachtete, irritierte ihn ein wenig, tat jedoch seinem Appetit keinen Abbruch. Im Gegenteil, er leerte den Napf bis auf den letzten Krümel Khiswas und begab sich anschließend zu einem ausgiebigen Mittagsschläfchen auf das Dach des Gartenhauses, von wo er sich nach einiger Zeit schmerzgeplagt in Richtung Heimat begab. Voller Genugtuung beobachtete Maria das Tier und stellte erleichtert fest, dass der Kater offensichtlich an heftigen Krämpfen litt. Also hatte das Arsen durch die lange Lagerung nichts von seiner Wirkung eingebüßt und sie konnte es bedenkenlos verwenden. Sie nahm sich vor, der Nachbarin in der nächsten Zeit einmal einen netten Blumenstrauß über den Gartenzaun zu reichen, das war sie ihr schließlich schuldig, denn Peterle würde sich wohl nicht wieder erholen.
Nun, da diese Hürde genommen war, galt es die Familie vollständig zu versammeln. Was bot sich da eher an, als das Fest der Liebe. So begann Maria damit, bei jeder Gelegenheit Einladungen auszusprechen. „Wie wäre es, wenn wir uns in diesem Jahr zu einem gemütlichen Essen versammeln würden, so wie es früher einmal war, als meine liebe Mutter noch für uns alle gekocht hat.“
In der Tat war das gemeinsame Weihnachtsessen in Marias Elternhaus früher die Regel gewesen. Als jedoch der Vater auf so mysteriöse Weise verstarb, wurde getuschelt, erst leise, dann immer lauter. Auch war die Mutter nicht mehr so gern gesehen, wurde nur noch ab und zu eingeladen. Die so Geschnittene machte sich nichts daraus, stellte den Kontakt zur „bös-willigen Verwandtschaft“ von sich aus ein. „Die neiden mir doch nur meine gute Witwen-rente“, hatte sie ihrer Tochter erklärt. Mit den Jahren war es wieder zu einer Annäherung gekommen, doch vermochte Marias Mutter ihrer Verwandtschaft nicht zu verzeihen und beklagte sich oft bitterlich bei ihrer Tochter. „Blut sollte dicker als Wasser sein, doch unsere Verwandten haben uns in Stich gelassen und verleumdet. Das sollen sie mir irgendwann büßen!“ Nun, Maria würde dafür sorgen, dass ihrer Mutter posthum Gerechtigkeit widerfuhr, das hatte sie sich fest vorgenommen.
So überredete sie nach und nach die Onkel und Tanten, nebst Anhang, an einem schönen Weihnachtsessen teilzunehmen, dass sie selbst zuzubereiten gedachte. Ein traditionelles Mahl mit Gänsebraten, Blaukraut und den legendären Kartoffelknödeln nach dem Originalrezept ihrer Mutter. Diese Knödel würden allerdings eine neue Zutat bekommen. Sie hatte alles genau geplant und jeden Tag eine kleine Dosis Arsen zu sich genommen. Zu ihrem Erstaunen ging es ihr so gut wie nie und sie erhöhte die Dosis nach und nach. So hoffte sie gegen das Gift gefeit zu sein, während ihre Mitesser so jämmerlich sterben würden, wie Peterle, der Kater. Wenn sie mit den Anzeichen einer Vergiftung ins Krankenhaus käme – um so besser, sie würde als Einzige überleben. Doch das würde sich ergeben, jetzt galt es sich auf das Nah-ziel zu konzentrieren.
„Heute Kinder wird’s was geben.“ Die Dekoration stand an ihrem Platz, der Tisch war hübsch gedeckt und Maria bester Dinge. Mit roten Apfelbäckchen erledigte sie die letzten Handgriffe. Einige Zeit später allerdings stieg ihr die Zornesröte ins Gesicht, denn noch immer fehlten die Gäste, ließen auf sich warten. „Ach was“, murmelte Maria vor sich hin, während sie die Gans liebevoll begoss. „Ich werde die Soße jetzt anrühren und die Knödel schon einmal ins Wasser tun. Dann muss ich sie eben warmstellen.“ Eben hatte sie den Gedanken in die Tat umgesetzt, als es an der Tür läutete. Wie groß war Marias Erstaunen, als sie sich dem Ortspolizisten gegenübersah. Die Nachricht, die er überbrachte, ließ sie wohlig erschauern. Die Onkel und Tanten hatten auf das Betreiben des wohlhabenden Onkel Eduards hin einen Kleinbus gemietet, den der scheinbar angeheiterte Onkel auch selber fuhr. „Was soll ich dir sagen. Der Bus ist von der Fahrbahn abgekommen und frontal gegen einen Baum geknallt.“, Hubert, der Polizist schüttelte traurig mit dem Kopf, während Maria seinen Schilderungen atemlos lauschte. „Und?“, fragte sie gespannt. Ein Schulterzucken und ein abgrundtiefer Seufzer waren die Antwort. „UND???“, Maria hatte vor Spannung die Finger ganz fest ineinander verschränkt. „Alle tot!“
Um ein Haar hätte Maria einen lauten Jauchzer ausgestoßen, doch sie fing sich im letzten Augenblick. „Darauf brauche ich einen Schnaps“, murmelte sie und ging in die Küche. Hubert folgte ihr schnüffelnd. „Hier riecht es aber gut!“ Maria schob ihm ein gefülltes Schnapspinnchen über den Küchentisch. „Hier, mein Lieber, den kannst du zur Stärkung gebrauchen.“ Hubert zögerte einen Augenblick, griff dann aber beherzt zu. „Hast ja recht. Das war schon ein grausiger Anblick. So was sieht man hier nicht alle Tage.“
Am nächsten Morgen erwachte Maria mit einem gehörigen Brummschädel. Mühsam richtete sie sich auf und blickte irritiert um sich. Tatsächlich, sie lag völlig bekleidet auf dem Klappsofa im Wohnzimmer. Diese Kopfschmerzen! Sie ließ sich matt in die Sofakissen sinken, um im nächsten Moment kerzengerade zu sitzen.
Es war Huberts letzter, ziemlich betrunkener Satz, der sie alarmierte. „Weißt was, Maria. Es ist so schade um das gute Essen, deine Verwandtschaft kann damit nix mehr anfangen. Ich pack das ein und bringe es den Kollegen im Präsidium, die freuen sich darüber, wo sie schon an Weihnachten Dienst schieben müssen. Ein bisschen was nehme ich mir mit nach Hause, wo ich doch deine Kartoffelknödel so sehr liebe!“
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