Diese Seite wird völlig neu gestaltet, vorhandene Beiträge übernommen, archiviert, ausgeblendet und auf Wunsch der Ersteller auch gelöscht … |
|
Volksfest
(nach Notizen, Presse und Internet, aus dem Jahr 1993)
Sieben Männer stehen auf der Rathaustreppe, sie tragen die Uniform der X.- Schützengesellschaft, schwarze Hose, weißes Hemd, grüne Jacke, grüne Krawatte, Hut mit Feder. Es ist Samstag, 14.00 Uhr. Das 12. Stadtfest wird mit Salutschüssen aus sechs Gewehren eröffnet.
Ein Wochenende steht dann ein weißes Zelt auf dem Rathausplatz, über der Bühne ein großes Plakat: „Freut Euch“.
Das Bier kostet drei Mark, nachmittags treffen sich die Älteren zum „Kessel: Buntes mit Gesang und Tanz“, der Posaunenchor tritt auf, und abends kommen die Jungen.
Kulvir steht an seinem Markstand beim Rathaus, nur wenige Meter von dem Platz entfernt, an dem er sonst immer steht, dienstags und donnerstags. Er verkauft T–Shirts und Socken.
Die Leute sind nett zu ihm.
Am Abend packt er seine Sachen zusammen, es sind nur fünfhundert Meter zu seiner Wohnung. Er ruft seine Freunde an, Mandeep und Jagpal. Sie treffen sich gegen 21.00 Uhr bei Amarjeet in dessen Imbissladen, dem „Picobello“.
Er hat eine riesige Pizza im Ofen, mit Ingwer, Knoblauch und Peperoni. Sie trinken Bier.
Es ist eine halbe Stunde vor Mitternacht. Sie haben Lust zum Feiern und gehen rüber zum Fest.
Anderthalb Stunden später sind sie wieder zurück, einer fehlt. Ihre Hemden sind voll Blut, sie haben Platzwunden am Kopf, Beulen im Gesicht, die Augen sind fast zugeschwollen.
Draußen stehen Menschen, sie brüllen und schlagen gegen die Tür.
Als Kulvir und seine Freunde um halb zwölf ins Zelt kommen, sehen sie die Kellnerin und einen Mitarbeiter aus dem „Picobello“ im Gedränge auf der Tanzfläche. Sie winken.
Tische stehen an den Zeltwänden, einige Jugendliche sitzen zusammen und diskutieren, ein paar schlafen schon, ihre Köpfe liegen auf der Tischpatte.
Viel getrunken haben die meisten, die jetzt noch hier sind. Die Älteren sind längst zu Hause.
Die Inder gehen nach vorn, sie tanzen, so wie man tanzt, wenn man ein paar Bier getrunken hat. Jeder bewegt sich hier allein in der Menge, nur wenige Paare, die sich eng umschlingen. Gegrölt wird, dass man die Kapelle kaum hören kann.
Es ist eng in dem Zelt, es wird gerempelt und geschubst.
Ein Jugendlicher, Marco, stolpert, fällt hin. Kulvir lacht. Warum lacht der, denkt Marco, er weiß nicht warum, vielleicht ist er betrunken, vielleicht lacht er nur so, vielleicht lacht er mich aus.
Marco geht zur Kellnerin des „Picobello“ und sagt: „Die Inder sollten aufpassen!“ Andere Jugendliche hören das, fangen an, auf Ausländer zu schimpfen. „Die sind hier Gäste, sollen sich nicht so aufführen, am besten hier ganz verschwinden.“
Bei der nächsten Drängelei zieht Marco einen Pfefferspray aus der Tasche und sprüht Kulvir ins Gesicht.
Die Freunde von Kulvir stürzen sich auf ihn, wollen ihm den Spray wegnehmen. Freunde von Marco mischen sich ein. Sie wollen die Inder zusammenschlagen.
Kulvir schreit: „Kommt, hauen wir hier ab, es gibt Ärger!“
Sie rennen zum Ausgang, wollen hier weg. Sie kommen nicht weit. Jugendliche stürzen sich auf sie, schlagen auf sie ein. Sie können sich losreißen, weglaufen.
Auf der Straße liegt ein schwerverletzter Mann, ein Deutscher. Dachdecker ist er, wohnt im Ort. Jugendliche stehen um ihn herum, reißen T–Shirts herunter, drücken sie auf eine Schnittwunde am Hals. Die Inder hätten ihn mit einer Bierflasche beworfen, als er zur Toilette gehen wollte, sagt er, dann verliert er die Besinnung. Wenig später ist der Notarzt da. Schlecht stehe es um ihn, meint er.
Aus der Prügelei wird jetzt eine Jagd auf Menschen.
Kulvir sieht kaum etwas, seine Augen sind fast zugeschwollen. Er hört Menschen rufen: „Hau ab, die bringen dich um“.
Er weiß, um was es hier geht. In der Zeitung hat er von einem Angriff von mehreren hundert Jugendlichen auf eine zentrale Asylbewerberstelle mit Molotow -Cocktails, Steinen und Feuerwerkskörpern gelesen. Viele schauten zu und feuerten sie an.
Er rennt, rennt um sein Leben, hinter ihm brüllende Jugendliche, sie kommen näher. Schon einmal musste er um sein Leben rennen, das ist schon lange her.
Er gewinnt einen Vorsprung. In den Häusern an der Straße gehen Lichter an, Fenster werden geöffnet, es wird applaudiert. Etwas Hartes trifft ihn am Rücken. Irgendjemand muss etwas aus dem Fenster geworfen haben. Er gerät ins Stolpern, fällt fast.
Gleich werden sie ihn einholen, denkt er, flüchtet über den Platz, durch eine Gasse, noch sechzig Meter, und er ist am Hintereingang des Imbissladens.
.
Er trommelt gegen die Tür, schreit. Die Tür wird aufgerissen, er lässt sich hineinfallen.
Seine Freunde sind schon da, aber Jagpal fehlt.
Ein Fenster wird eingeworfen, Glasscherben fliegen in den Raum.
Kulvir, Mandeep und Armajeet laufen jetzt in den Flur.
Sie haben das Licht ausgemacht, versuchen Jagpal auf dem Handy zu erreichen, er geht nicht ran. Sie wissen nicht, dass er schwer verletzt auf dem Weg ins Krankenhaus ist.
Sie hören das Gebrüll von Menschen, sehen können sie sie nicht, der Flur hat keine Fenster.
Irgendetwas Schweres wird gegen die Eingangstür geschmettert, noch hält sie Stand. Sie schieben einen Schrank vor die Tür.
Dann hören sie eine Sirene, die Polizei ist am Vordereingang angekommen, die Menschen rennen weg, zum Hintereingang.
Zwei Polizisten kommen ins Haus.
Am Hintereingang zum Hof wird jetzt ein Holztor eingedrückt. „Deutschland den Deutschen, Türken raus“, hört man brüllen.
Die Menge wird immer größer, vom Punk bis zum Skinhead sind alle dabei.
Im Hof liegt ein Schutthaufen mit Pflastersteinen. Sie werfen sie gegen das Fenster, gegen den weißen Kastenwagen von Armarjeet.
Mit einer Regenwassertonne schlagen sie gegen die Tür.
Kulvir schreit zu den Polizisten: „Schießt, schießt, schießt wenigstens in die Luft, sie werden die Türe einschlagen und uns umbringen!“
Aus Presseberichten weiß er, dass jüdische Friedhöfe verwüstet wurden.
Ausländer wurden als Parasiten und Asylbetrüger beschimpft.
Männer, Frauen und Kinder waren verbrannt, getötet worden. Menschen hatten sich in ihrer Angst und Verzweiflung selbst umgebracht, hatten sich vor Züge geworfen, waren aus Fenstern brennender Häuser, waren von Dächern gesprungen.
Über hundert Menschen wurden auf offener Straße von Neo–Nazis umgebracht.
Ein Polizist schießt durch das zerbrochene Fenster in die Luft, die Menge weicht zurück.
Am vorderen Eingang stehen zwei Polizisten etwa fünfzig jungen Männern gegenüber, die brüllen: „Ausländer raus!“ Sie sagen zu den Polizisten: „Geht weg, lasst uns das regeln!“
Dann kommen weitere Polizisten mit Schäferhunden, Helme und kugelsichere Westen tragen sie.
Die Menge zieht sich zurück, die Inder werden zur Wache in den Nachbarort gebracht.
Die Schaulustigen gehen auch nach Hause.
Es ist Sonntag, das Stadtfest geht weiter.
In einem Zeitungsinterview zu den Vorfällen in X. sagt der Bürgermeister:
„Ausländer raus, so was kann einem doch schon mal bei einem Volksfest über die Lippen kommen. Das Stadtfest ging weiter, weil ich beweisen wollte, dass wir aus X. ein ganz anderes Völkchen sind und wir auch unter diesen Umständen noch feiern können.“
Besucher
0 Mitglieder und 26 Gäste sind Online |
Forum Statistiken
Das Forum hat 1696
Themen
und
3575
Beiträge.
|
Forum Software von Xobor.de Einfach ein Forum erstellen |