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Und da stand der kleine Elefant allein. Mit einer dünnen Kette hatten sie ein Bein von ihm an einen Pfahl aus Holz angebunden. Er konnte nicht weglaufen. Später, wenn er groß und stark war, würde die dünne Kette ausreichen, um ihn festzuhalten. Er würde niemals wissen, dass er sie zerreißen konnte.
Die Kette
I
Diesmal war alles anders. Sein Vater hatte ihn zu einem Hausfest eingeladen. Seine Mutter war zu einer Freundin gefahren. Zum ersten Mal würde er dabei sein.
Wenig gekümmert hatte sie sich bisher um ihn, ihm nie etwas zugetraut. „Das kannst du doch nicht!“, wurde ihm immer wieder gesagt, und schließlich hatte er es geglaubt.
Benjamin stand alleine am Fenster und nippte an einem Drink, er war Alkohol nicht gewöhnt. Er schaute die eintretenden Gäste an, Arbeitskollegen seines Vaters mit ihren Gattinnen in Anzügen und Abendkleidern. Er hoffte, dass der Abend schnell zu Ende ginge, fühlte sich unsicher, strich sich über seine langen blonden Haare, die ihm immer wieder über das Gesicht fielen.
In seinem neuen, dunklen Anzug fühlte er sich nicht wohl, kam sich eingezwängt vor, obwohl er schlank war. Er war an lockere, bequeme Kleidung gewöhnt.
Er versuchte kleiner zu erscheinen, als er war, stand immer etwas gebückt da, als
wenn er etwas vom Boden aufheben wollte.
Dann kam sie auf ihn zu. Sie ging wie eine Tänzerin, fast schwebend, mit kleinen Schritten. Ihm fielen ihre langen roten Haare auf, die weit über ihre Schultern reichten. Sehr gerade ging sie, bewegte den Kopf immer wieder hin und her, ihr Haar flog von einer Schulter zur anderen.
Sie gab ihm die Hand, stellte sich als Praktikantin seines Vaters vor, Carla Manshold, und er sah, dass sie grüne Augen hatte. Sie schaute unruhig, fast ein wenig unsicher umher, immer wieder sah sie seinen Vater an. In ihren Schuhen mit hohen Absätzen war sie fast so groß wie er.
Er versuchte sich auf ihr Gesicht zu konzentrieren, aber immer wieder fiel sein Blick auf ihre langen Beine, die durch einen Minirock noch länger erschienen, als sie waren, und auf ihren wohlgeformten Körper. Er hoffte, dass sie es nicht bemerken würde.
Welch eine Traumfrau, dachte er. Sie bat ihn, ihr ein Glas Sekt zu holen. Sie tranken einander zu.
„Wir sollten eigentlich zueinander „Du“ sagen“, meinte sie.
Das Essen hatte ein Partyservice angerichtet, alle gingen ins Esszimmer, Carla saß zwischen ihm und seinem Vater.
„Seit einem Jahr arbeite ich jetzt bei deinem Vater, ich werde am Ende des Jahres meine Ausbildung beenden. Ich habe viel gelernt, dein Vater ist ein ausgezeichneter Chirurg, aber das weißt du ja wohl.“
„Ja, ich habe das gehört, ich weiß aber wenig über meinen Vater.“
Er leerte sein Weinglas in einem Zug, versuchte entspannter zu werden, der Alkohol würde ihm dabei helfen, dachte er.
Sie sah ihn etwas verständnislos an, wartete wohl auf eine Erklärung.
Er wollte das Gespräch in Gang halten, wusste nicht, was er mit ihr reden sollte.
„Bei uns in der Familie bin ich das fünfte Rad am Wagen“, sagte er, „ ich fühle, dass ich irgendwie nicht ganz dazu gehöre. Ich werde nicht ganz für voll genommen, man traut mir nichts zu. Meine beiden Brüder studieren, ich arbeite in einer Eisenwarenhandlung.“
Er staunte über sich selbst, dass er so offen reden konnte, die Wirkung des Alkohols machte sich bei ihm wohl bemerkbar.
Sie hörte auf zu essen, legte die Gabel auf den Teller und streichelte seine Hand. Sie schaute ihn dabei an, dann seinen Vater.
Am Tisch wurden die Diskussionen immer lauter. Keiner schien sich um Carla und ihn zu kümmern.
Es ging darum, wer den Satz gesagt hatte:
„Der Mann ist leicht zu erforschen, die Frau verrät ihr Geheimnis nicht“.
Sein Vater meinte, meistens habe Goethe alles Wichtige gesagt.
Benjamin hatte anfangs nicht zugehört, sagte dann, in diesem Fall sei das ein Irrtum, Kant sei der Autor.
Carla sah ihn nachdenklich und überrascht an.
Am Tisch waren alle Gespräche verstummt, alle schauten ihn an. Er bereute, dass er sich eingemischt hatte.
„Woher willst denn du da wissen?“, fragte ihn sein Vater.
„Ich habe es gelesen.“
„Wo?“
„Du hast eine riesengroße Bibliothek, ich habe fast alle Bücher daraus gelesen. Bin später dann auch in öffentlich Bibliotheken gegangen.“
Verständnislos schaute ihn sein Vater an. „Na ja, dass du das nicht von dem stumpfsinnigen Deutschmann aus der Eisenwarenhandlung weißt, ist mir schon klar. Bei dieser primitiven Arbeit hast du genug Zeit, etwas Gescheiteres zu tun. Manchmal findet auch ein blindes Huhn ein Korn. Du musst schließlich nicht hart arbeiten wie wir alle.“
Der Nachtisch wurde serviert, Eistorte. Die Gespräche waren wieder in Gang gekommen, Carla sah ihn an. Er spürte ihren Fuß an seinem Bein, sie hatte wohl
einen Schuh ausgezogen.
Sie sah ihn bewundernd an, wie er meinte, legte eine Hand auf seinen Oberschenkel und streichelte ihn sanft. Sie schaute dabei seinen Vater an.
Er stand auf, leicht schwindlig vom Alkohol, entschuldigte sich, er müsse einmal frische Luft schnappen.
Er stieg die Treppe hinunter und ging im Garten umher. Plötzlich umarmte ihn jemand und küsste ihn.
II
Als Benjamin zurückkam, war der Vogel tot. Drei Tage war er weg gewesen, war in die Stadt gefahren. Er hatte sich in einem Institut eingeschrieben, er würde jetzt das Fachabitur machen und später studieren.
Frei würde er endlich werden, etwas aus sich machen, von allem loskommen. Alle, die ihm nie etwas zugetraut hatten, würden überrascht sein, endlich hatte er es geschafft.
Sie saß im Sessel vor dem Fenster, schaute ihn nicht an und starrte auf den Boden. Ein großes Glas hielt sie in der Hand.
„Du hättest ihm wenigstens Wasser geben können“, sagte er zu seiner Frau Carla.
„Ich hatte Wichtigeres zu tun, als mich um deinen blöden Vogel zu kümmern“.
Sie ging zum Getränkeschrank, holte eine Flasche Wodka heraus und schenkte sich ein Wasserglas voll ein.
„Du hast immer Wichtigeres zu tun, bist selten zu Hause.“ Er sah sie an, versuchte sich zu erinnern, wie sie war, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte.
„Du hast keine Ahnung, wie anstrengend die Arbeit im Krankenhaus ist, hockst immer ruhig zu Hause und glaubst noch, das sei etwas Besonderes. Das einzige, was dich wirklich interessiert, sind deine Bücher.“
Sie goss sich ein weiteres Glas Wodka ein und schaute aus dem Fenster.
„Du lässt mich ja nichts anderes machen. Wenn deine Freunde kommen, bin ich ein Hausangestellter, bediene euch von vorne bis hinten. An Gesprächen soll ich ja nicht teilnehmen, du hast Angst, dass ich dich blamieren könnte.
Du führst deine Gäste in diesem Traumhaus am Meer herum, das mein Vater bezahlt hat. Mich, deinen Ehemann, stellst du kaum vor.“
Er dachte, dass es ihm in seinem ganzen bisherigen Leben so ergangen war, immer war er ausgeschlossen gewesen, nur nützlich für einfachste Arbeiten.
Sie hatte ihr Glas schon wieder geleert.
„Dir will ich jetzt mal etwas sagen, was dich von den Socken hauen wird. Der das Haus bezahlt hat, ist nicht dein Vater!“
„Wer denn sonst?“
„Professor Dr. Ernst Geppert. Aber er ist nicht dein Vater. Er hat mich gestern
verlassen und entlassen, hat eine andere gefunden.“
Er glaubte nicht richtig gehört zu haben, sprang aus dem Sessel auf und stand jetzt direkt vor ihr.
„Was soll denn das wieder?“
„Du bist nicht sein Sohn!“
„Was?“
„Dein Vater ist Georg Deutschmann von der Eisenwarenhandlung, wo du etliche Jahre gearbeitet hast. Deine Mutter ist fremdgegangen.“
Georg Deutschmann sein Vater! Jetzt verstand er manches besser. Er sagte aber: „Das glaube ich dir nicht, das ist wieder eine von deinen Gemeinheiten!“
„Sag mal, ist dir wirklich nie aufgefallen, wie dich alle behandelt haben? Hast du nie gemerkt, dass dir niemand etwas zutraut? Dass du nicht zur Familie gehörst? Dass du den, den du für deinen Vater hälst, in nichts ähnelst?“
„Ganz früher war das wohl so, aber dann hat mein Vater unsere Heirat gefördert, uns das Haus gekauft, dich zu seiner Assistentin gemacht! Uns oft besucht.“
„Unsere Heirat gefördert! Georg hat mich gekauft. Es war bequemer für ihn, wenn ich mit seinem angeblichen Sohn verheiratet war. Ich war dann immer für ihn verfügbar.“
Er setzte sich wieder in den Sessel, schluckte, schwieg.
„Deswegen kommst du so oft erst spät in der Nacht nach Hause, deswegen bist du so oft auf irgendwelchen Tagungen.“
„Ja, es war leicht mit dir, auch an das Märchen meiner Vergewaltigung hast du geglaubt, dass ich deswegen nicht mit dir schlafen konnte.“
„Dann war alles nur Theater und ich ein Einfaltspinsel, der alles ernst genommen hat?“
Sie fing an, die Zeitschriften vom Tisch zu nehmen und in einen Ständer einzuordnen. Dann sah sie ihn an.
„Nicht alles war vorgetäuscht, ich habe dich einmal gemocht, hatte nicht die Kraft, neu anzufangen. Alles war so bequem.“
Sie warf ihr Glas auf den Boden, stand auf und zog ihren Mantel an.
Er hörte ihr Auto, sie fuhr davon.
Er fing an seinen Koffer zu packen, der kleine Koffer reichte aus. Er würde nicht viel mitnehmen, würde sich neue Sachen kaufen.
Dann nahm er das Geld aus der Schublade, das Haus würde nicht mehr renoviert werden. Neu anfangen würde er, alles hinter sich lassen, alles anders machen. Er lud alles ins Auto ein, das Geld legte er ins Handschuhfach.
Bevor er losfuhr ging er noch einmal zurück ins Haus. Hier hatte er mit ihr gelebt, eher neben ihr.
Er schaute sich um, sah in der Eingangshalle die teuren Möbel, Teppiche und Bilder. Nichts davon gehörte ihm wirklich.
Im Käfig lag immer noch der kleine Vogel, verdurstet war er. Der hatte ihm gehört.
Er nahm ihn vorsichtig aus dem Käfig, streichelte ihn, als wenn er noch leben würde.
Vor einem Bild blieb er stehen, es hatte ihn immer wieder beeindruckt:
“Der Schrei“.
Er hatte das Original nie gesehen, immer wieder die Kopie betrachtet. Er hatte über den Maler Edward Munch alles gelesen, was für ihn erreichbar war. Plötzlich verstand er, was der Maler ausdrücken wollte.
Grauenhaftes Entsetzen sprach aus dem Bild, Verzweiflung, nicht eine Person mit aufgerissenen Augen und geöffnetem Mund wurde dargestellt sondern ein Gemütszustand.
Kalte Grüntöne, bedrohliche Rottöne, hektische Führung der Kreidestriche, alles stürzte auf den Betrachter zu.
Er hatte gelesen, dass der Maler gesagt hatte: „Die Lebensangst hat mich begleitet, seit ich denken kann.“
Auch ihn hatte Lebensangst immer begleitet, er hatte immer etwas gesucht, nie gewusst was, und wenn er etwas gefunden hatte, hatte er es wieder verloren.
Und das würde immer so weiter gehen.
Er legte den Vogel unter einen Baum und deckte ihn mit Laub zu.
Dann ging er zum Auto zurück, ließ den Motor an und stellte ihn wieder ab.
Man kann immer nur neu an dem Punkt beginnen, an dem man gerade ist, egal wie man dahin gekommen ist, dachte er. Neu beginnen ist deshalb nur „ weiter machen“.
Er stieg aus, ließ die Tür offen stehen und ging zum Meer hinab.
Das Wasser umspülte seine Füße, dann seine Schenkel. Er schaute sich nicht mehr um, ging immer weiter.
DOCH ... ein Kommentar:
Der Fluss der kurzen Geschichte kommt sehr gut rüber und das Ende ist umso schlüssiger, als hier der Protagonist den zuvor behandelten Gedanken auslebt.
Kommt mir sehr entgegen ... aus den (den Älteren in diesem Forum) bekannten Gründen: meine Kurzgeschichte BEGEGNUNG!
Respekt, Paolo.
LG
Alex
"FEUERAUGEN" (3 Bände: 1-Das Dorf, 2-Drei Städte, 3-Das Schloss)
Mein Roman im Buchhandel
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