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Der letzte Zug
Es war die Abenddämmerung, die ihre Macht den Laternen über den Gleisen übergeben musste. Jener schmuddelige, gelb schimmernde Schein zerrte den Bahnhof aus einer stetig anwachsenden Dunkelheit. Zwei, bisweilen drei Wimpernschläge verstrichen, bis das alte Gebäude im Zwielicht des Abends zurücksank; getrieben von eisigen Windböen schwangen Lichter wie Kinderschaukeln. Verkrusteter Schnee lag über dem Bahnsteig. Es herrschte einer dieser beißend, einsamen Nächte, die den Rest weihnachtlicher Wärme verscheuchten.
Zum letzten Mal offenbarten Eiswinde ihre Macht und erstarben. Dichtes Schneetreiben hatte eingesetzt.
Ein Fremder betrat das Bahnhofsgelände. Er zog seinen Hut tief in die Stirn. In aller Ruhe zündete er sich eine Zigarette an. Für einen Augenblick warf ihre Glut einen rötlichen Schimmer auf sein Gesicht. Ein flüchtiges Aufblinken, das jede Anwandlung einer Miene in ein schwarzrotes Gemälde erstarren ließ.
Schneeflocken schwebten lautlos hernieder. Zögerlich, als stände eine leidige Aufgabe vor ihm führten ihn seine Schritte zur Bahnsteigkante. Kein Laut unterbrach die Stille; es schien als schwebte er über verkrustetem Schnee. Inmitten zwei sich kreuzender Schatten der Leuchten blieb er stehen. In seinen schwarzen Augen schienen vergangene Zeiten dieses Bahnhofes zum Leben erwacht.
An rostzerfressenen Gleisen klebte Schnee wie Zuckerwatte an einem Holzstiel. Er ließ seine Kippe fallen und schaute auf einen Prellbock. Seine Pupillen füllten das Weiß seiner Augen. Sein Blick galt dem Hindernis gerichtet, als wollten samtene Ewigkeiten die hölzerne Grenze einreißen.
Langsam wanderte sein Blick am schneebedeckten Schienenstrang entlang. Am nördlichen Horizont verschmolz der Schienenstrang mit der Schwärze dieser Winternacht.
Der nächtliche Besucher schlug den Kragen seines Lodenmantels hoch. Dabei wanderte sein Blick übers Bahnhofsgebäude. Putz rieselte von den Wänden. Blinde Fenster schauten ins Leere.
Nur aus dem Nebengebäude spendete eine einsame Lampe dem Bahnsteig einen Hauch Leben. Das Licht streute unzählige Regenbogenperlen über die weiße Pracht.
Der Schatten eines Menschen kroch am Fenster vorbei. Kurz darauf ging eine Tür mit schwach quietschenden Geräuschen auf. „Ist da jemand?“ War es lautloses Rufen eines Unsichtbaren oder dachte der Bewohner, dass ihn Stimmen narrten.. Unter seiner roten Dienstmütze fiel dichtes Haar in derselben Farbe des Schnees auf seine dunkelblaue Unform.
Da erblickte er den Fremden „Hier fährt kein Zug mehr“, rief er dem Fremden zu. „Sie müssen schon mit dem Bus vorlieb nehmen. Morgen früh um sechs vom Rathausplatz.“ Einzig ein leises Echo schenkte ihm eine Antwort. Schneeflocken zauberten gemeinsam mit schwingenden Schatten der Leuchten einen bizarren Vorhang um den Eindringling. „Seid Ewigkeiten nicht mehr.“ Langsam kam er der Gestalt näher. „Mein Name ist Wilhelm Pergande, ich bin ... War Bahnhofsvorsteher. Es wird kein Zug einfahren, geschweige hier halten.“ Er trat zwei Schritte vor. „Was wollen Sie hier?“
„Ich warte!“
Wilhelm trat näher um mit dem Schein seiner Laterne, dem Fremden ein Gesicht geben zu können. Freundliche Blicke mit ewigem Lächeln an seinen Lippen bezeugten, dass von diesem Mann keine Gefahr ausging. „Sinnlos, Herr ...“
„Nein!“, unterbrach ihn der Unbekannte.
Wilhelm schluckte über dieses überzeugend klingende Wort. Er war es nicht mehr gewohnt wartende Fahrgäste anzutreffen. „Ich sagte Ihnen doch, hier fährt kein Zug mehr. Zum letzten Mal vor zwanzig Jahren; hat nicht Mal angehalten, raste einfach durch.“
Ein freundlich, lautloses Schmunzeln blieb die einzige Antwort des Fremden.
„Mich haben sie in Pension geschickt, durfte jedoch weiter hier wohnen; im Nebengebäude.“ Mit seiner Lampe leuchtete er zum Anbau. „Ich wohn allein.“ In seiner Stimme schwangen unterschwellige wehmütige Töne. „Meine Frau ist vergangenes Jahr verstorben. Mein Sohn ist vor zehn Jahren weggezogen, hat geheiratet.“ Die Schneeflocken aus dem Dunkeln versiegten. Wilhelm schaute hinter den Fremden. Keine Spur bewies ihm, dass dieser Fremde aus irgendeiner Richtung gekommen war.
Eine Windböe brauste kurz auf und scheuchte eisigen Schnee übern Bahnsteig. »Ist wohl verweht«, dachte er und wandte sich an seinen nächtlichen Besucher. „Sie dürfen mir glauben, es ist vergeblich.“
Der Mann schob seinen Hut zurück.
Erstaunt, erschrocken, zugleich neugierig runzelte Wilhelm die Stirn. Aus diesem jugendlichen Gesicht schimmerte zeitlose Ewigkeit.
„Kennen wir uns?“ Der Greis trat einen Schritt näher. „Mir ist, als hätte ich Sie schon Mal gesehen!“ Dieser grenzenlose Frieden in seiner gesamten Art. Er schüttelte den Kopf, unmöglich. Lange schenkte er dem Wartenden seine Aufmerksamkeit.„Gehen Sie lieber nach Hause, Sie erkälten sich sonst noch.“
„Bald!“, lächelte der Fremde. „Nach dem letzten Zug.“
„Hier fährt keiner mehr“, erwiderte der Bahnhofsvorsteher verärgert.
„Doch!“
Wilhelm brach in schallendes Gelächter aus. Mit seiner Laterne zeigte er auf die Gleise. „Hier kann nicht Mal eine Lore darüber fahren, ohne dass alles auseinanderbricht.“ Er gab seinen Worten die Autorität, die ihm zum Herrscher über diesen Bahnhof gemacht hatte.
„Jetzt wird’s mir klar; mein Sohn hat Sie geschickt“, erklärte er ihm, als seine Lachsalven versiegt waren. „Mein Junior war schon als Kind jedem Schabernack zugeneigt.“ Er wischte letzte Lachtränen vom Gesicht.
„Nein!“
„N ... Nicht?“ Ein Schauer flog über seinen Rücken; seine Nackenhaare standen aufrecht. „Was soll das; wollen Sie einen alten Kerl wie mich veralbern?“
Der Namenlose zog am Ärmel seines Mantels und schaute zur Armbanduhr. Das Ziffernblatt funkelte in sämtlichen Farben, wie sie nur in der Natur vorkommen konnten. Das Ticken, erinnerten Wilhelm an seine alte Pendeluhr. Nach dem Tod seiner Frau hatte er das wertvolle Stück seinem Sohn geschenkt.
„Horch!“ Der Unbekannte zeigte nach Norden.
Wilhelm hörte auf zu atmen. Ihm schien als hätte die Welt es ihm gleichgetan. Angestrengt lauschte er hinaus. Seine Sinne verließen ihn. Aus dem greifbaren Dunkeln vermeinte er Stampfen einer alten Lokomotive näherkommen.
„Kann nicht sein!“
Dein Zug wird bald einfahren, schau.“ Der Fremde tippte auf seine Armbanduhr. Der Minutenzeiger war stehen geblieben.
„Mein Zug? Ich verstehe nicht! – Wer ... Wer sind Sie?“
„Ein Freund.“
Das Schneetreiben hatte aufgehört. Über dem Bahnhof spannte die Nacht ein samtblaues Tuch; Sterne flimmerten wie Myriaden lebendiger Diamanten.
Ein zweiter Blick zur Uhr zeigte dem Fremden, das es Zeit war. Sämtliche Farbenspiele der Uhr verblassten. „Dein Zug fährt herein!“
Eine alte Dampflokomotive stampfte in den Bahnhof. Der einzelne Scheinwerfer legte weißes Licht übers Gelände. Die Metallräder quietschten, drehten durch; pfeifende Töne erklangen; der Zug stand still. Zwei, dann vier, weitere sechs Sekunden flossen vorüber. Die Winterkälte zerstäubte die austretende Dampfwolken in winzige Eisperlen. Der Sekundenzeiger war stehen geblieben. Die Tür des einzigen Wagens stand weit geöffnet: „Steig ein Wilhelm!“ Sein Besucher präsentierte ihm mit einer einladenden Gebärde seinen Weg.
Der alte Bahnhofsvorsteher knöpfte seine Jacke zu, setzte seine Dienstmütze zurecht und übergab dem Besucher seine Dienstlaterne. „Ich brauch sie wohl nicht mehr.“ Ein letzter Blick zu seinem geleibten Bahnhof, überquerte die strecke zum Waggon mit wenigen Schritten und stellte seinen rechten Fuß auf den Tritt. Plötzlich hielt er inne, überlegte kurz, kam aber noch ein Mal zurück. In seiner Miene strahlte erkennende Freude. „Mir ist eingefallen, wo ich Ihnen begegnet bin. Im Antlitz meiner Frau, auf ihrem Sterbebett.“ Ihm war als trüge ihn eine Wattewolke in den Waggon. Sämtliche Lasten seines langen Lebens verschwanden.
„Setzen Sie sich, Herr Kollege.“ Ein Schaffner führte ihn zum letzten freien Sitzplatz des Abteils. „Ist für Sie reserviert.“
Wilhelm zögerte einen Moment. „Das ist ja erster Klasse!“, frohlockte er, ging seiner Sitzgelegenheit entgegen und zog das Fenster herunter. Um den Zug schwebten milde, für ihn noch unbekannte Düfte. Sein Blick wanderte zum letzten Mal übern Bahnsteig, weiter am Hauptgebäude und blieb an seiner Wohnung hängen.
›ZU VERKAUFEN‹, stand in roten Lettern auf einem übergroßen Banner. Sämtliche Lichter des Hauses waren erloschen.
Seine Hand zitterte. „Mein Zuhause!“
„Du brauchst dies alles nicht mehr.“ Dieser vertraute Namenlose hatte seinen Kragen zurückgeschlagen. In seinen Augen glänzte Wärme vereint mit ewiger Freude.
Die Lokomotive stieß einen langen, schrillen Ton heraus. Ihre Räder drehten kurz durch. Das Gefährt nahm langsam Fahrt auf. Hinter ihrem Dampf verschwanden endgültig die Umrisse des Bahnhofsgeländes. Nur dieser freundliche Botschafter stand deutlich sichtbar vor einer milchigweißen, aus sich selbst leuchtenden Wolke.
„Kommen Sie nicht mit?“ Wilhelm lehnte etwas hinaus.
„Nein!“, rief dieser freundlich hinterher. Meine Aufgabe ist in dieser Welt.
„Ich hab keinen Fahrschein“, stotterte Wilhelm. Ängstlich schaute er auf seinen Kollegen.
„Ihren Fahrpreis haben Sie schon längst bezahlt, Herr Kollege. „In ihrem Leben. Machen Sie es sich bequem; ihre Reise wird einige Zeit in Anspruch nehmen.“
„Warum.“ Der alte Mann war sichtlich verwirrt. „Wohin fahren wir?“
„Schauen Sie aus dem Fenster.“
Wilhelm blickte in Erinnerungen seines langen Lebens. Viele Ereignisse, die im Dunkel seiner Vergangenheit verloren schienen, rauschten vorbei. Unzählige kleine Begebenheiten erzählten ihm, seine Vergangenheit. Vielfältige Momentaufnahmen zeigten ihm sein wahres Entgelt für seinen letzten Zug.
„Genießen Sie den Anblick.“ Der Zugbegleiter tippte mit dem Finger an seine Dienstmütze.
„Und dann?“
„Nach Hause, mein Freund.“
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